Leistung oder Genuss?

Gerade bin ich ein paar Tage im Tessin, der Sonnenstube der Schweiz. Es ist frühlingshaft warm und die Sonne scheint. Wie will ich meinen Tag gestalten? Mich in den Liegestuhl setzen und lesen? Oder doch eine Wanderung unternehmen?

Nach einem Tag im Liegestuhl juckt mich das Wanderbein doch und ich mache mich auf den Weg. Es geht steil hinauf, der Himmel ist blau und die Sicht auf den Lago Maggiore einfach herrlich. Immer wieder halte ich an, bestaune die kleinen Veilchen, Primeln oder Krokusse die ihre Köpfe der Sonne entgegen strecken. Hier ist ein Moos, das ich anfassen, dort ist ein wunderschöner Blick auf den See, welcher von mir fotografiert werden will.

Für meine Verhältnisse komme ich nur langsam vorwärts. Eine Stimme in mir meint: «So lauf nun endlich los und finde deinen Rhythmus, sonst kommst du nie oben an». Gleichzeitig geniesse ich es gerade, mir alles genauer anzuschauen und nicht im Stechschritt losmarschieren zu müssen.

Irgendwann komme ich in meinen Schritt. Langsam, aber sicher steige ich höher und höher hinauf. Es ist einfach herrlich in meinem Tempo gehen zu können, ohne auf andere Rücksicht nehmen zu müssen. Niemand drängt vorwärts, niemand zwingt mich langsamer zu gehen.

Ich geniesse die wechselnde Vegetation, halte an, um mir etwas anzuziehen, wenn der Wind stark bläst oder um das Hemd wieder auszuziehen, wenn es windstill und sonnig ist.

Oben angekommen, in einer windgeschützten Kuhle, mache ich Pause und sinniere über mich nach. Früher war es mir sehr wichtig, ob ich genügend Höhenmeter gemacht und ob ich die auf den Wandertafeln angezeigte Zeit unterschritten habe.

Heute geniesse ich bewusst die Bewegung in der Natur und all die kleinen Dinge, die mir auf dem Weg begegnen: Die singenden Vögel, die Eidechsen, die davon hüpfen (wirklich, sie springen über das trockene Laub), die unterschiedlichen Aussichten, welche sich mir durch die Bäume zeigen oder all die Pflanzen, welche aus dem Boden spriessen. Es ist ein Genuss für all meine Sinne!

Es wird mir bewusst, dass beides möglich ist: Leistung und Genuss. Ich bin weit oberhalb des Sees und habe eine wunderbare Aussicht. Ich nehme mir die Zeit, Schönes zu geniessen und bin trotzdem in meinem Tempo stetig hinauf gewandert und habe mein Ziel erreicht.

Wie kann ich dies in meinen Alltag übernehmen? Liegestuhl oder Wandern? Leistung oder Genuss? Oder immer wieder von beidem? Für mich ist das Wesentlichste wohl, in meinem Tempo – egal, was andere von mir erwarten oder wie stark mich meine inneren Stimmen antreiben.

Denn wenn ich es so mache, wie es für mich passend ist, dann bin ich erfolgreicher und gleichzeitig auch zufrieden. Ich bringe gute Leistung und kann mich am Erreichten erfreuen, ohne völlig ausgelaugt zu sein.

Und ja, manchmal muss frau auch in den sauren Apfel beissen: hinten ging es im meterhohen Schnee anstrengend hinunter. Kein grosser Genuss mehr, doch das Gefühl am Ende, es geschafft zu haben, war Zufriedenheit pur! Auf das Mass kommt es an.