Mein Schwiegervater ist in Venedig aufgewachsen. Er hat seine Frau am Lido kennen und lieben gelernt. Eine kurze Zeit haben sie gemeinsam bei seinen Eltern gelebt, doch meine Schwiegermutter hatte Heimweh und wollte zurück in die Schweiz. So sind mein Mann und sein Bruder in der Schweiz aufgewachsen und verbrachten jeden Sommer herrliche Ferien am Meer.
Als mein Schwiegervater pensioniert wurde und auch seine Freunde und Bekannten zurück in ihre Heimat gingen, verbrachte er immer mehr Zeit in Italien. Dort knüpfte er an die Beziehungen an, welche er über die Jahre – trotz Distanz – gepflegt hat.
Im Herzen ist und bleibt er ein Italiener. Doch die Zeit, welche er in der Schweiz gelebt und gearbeitet hat, ging nicht spurlos an ihm vorbei. So erzählt er zum Beispiel gerne, wenn er in Italien ist, wie gut das ganze Bürokratische System in der Schweiz funktioniert. Andererseits fehlen ihm in der Schweiz die lockeren Gespräche beim Aperitif in der Bar.
Aus meiner Sicht scheint er in beiden Ländern zu Hause zu sein und doch nicht. Da ist diese unkomplizierte Art und Weise in Kontakt zu kommen, hier sind es die Abläufe, welche klar und nachvollziehbar sind. Hier sind seine Ärzte und seine Familie, dort die alten Freunde aus der Jugend und seine Cousins.
Diese Zerrissenheit wird für mich manchmal spürbar und ich weiss nicht, ob er selbst sich dessen so bewusst ist. Es schwingt Sehnsucht mit, egal ob er vom Rudern auf der Sport-Gondel im Golf von Venedig erzählt oder vom Basketballclub Baden (Schweiz), den er jahrelang mitgestaltet hat.
Diese Form der Zerrissenheit kenne ich bei mir nicht. Obwohl ich auch zwischen zwei Welten aufgewachsen bin. Meine Eltern sind aus Prag geflohen. Die Flucht war für sie der einzige Ausweg. Es war klar, es gibt kein Zurück mehr. In der Schweiz angekommen, haben meine Eltern versucht, sich zu assimilieren und dem Vergangenen nicht nachzutrauern, wie viel Exil-Tschechen es taten. Dafür bin ich ihnen von Herzen dankbar.
Ich habe ich immer wieder darüber nachgedacht und wusste lange nicht, wohin ich gehöre. Nach einem bewussten, persönlichen Prozess weiss ich heute, dass meine Wurzeln in Tschechien sind, meine Heimat jedoch die Schweiz ist.
Seither fühle ich mich nicht mehr hin und her gerissen, sondern ziehe Stärke aus diesen unterschiedlichen Kulturen. Ich bin stolz darauf, in Prag geboren zu sein und vermeide es nicht mehr, offen dazu zu stehen. Gleichzeitig bin ich stolz darauf, Schweizerin zu sein. Seit meiner Heirat bin ich als Italienerin zusätzlich mit der Heimat meines Schwiegervaters verbunden.
Was für meinen Schwiegervater schwierig erscheint, seine Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen, das sind für mich einfach zwei sehr unterschiedliche Welten.